Die Sonatine entstand von Sommer 2015 bis Frühjahr 2016 für Richard Stanzel, von dem auch die Idee stammt, der Komposition Tageszeitengedichte Joseph von Eichendorffs zu Grunde zu legen. Bei der kompositorischen Arbeit entfaltete sich dann ein Stück, das vom Eichendorff Gedicht „Der Morgen“ seinen Ausgang nimmt und es immer wieder aufgreift, dann aber über kürzere und längere Abschnitte hinweg auch ganz anderen Wegen folgt.
Über dem ersten Abschnitt steht mottohaft das Wort „Morgen“. An die erste Strophe, die noch im ganzen (ohne Gesang) vertont ist, schließt sich dann ein Kontrapunkt an, der als Ausschnitt bereits an früher Stelle auf die Musik des Endes der Sonatine verweist. Dieser und die folgenden kontrapunktischen Abschnitte sind nach satztechnischen Regeln des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts komponiert, allerdings mit vielen Vorschlägen versehen, die aus den Tönen eines imaginären Kanons im Tritonus-Abstand bestehen. Manchmal sind die Töne dieses „Schattenkanons“ auch mit den „richtigen“ vertauscht, also in einer Art Cambiata-Manier umgestellt, wodurch Abweichungen und Verfremdungen entstehen.
Die Überschrift „Morgen“ über dem ersten Abschnitt nimmt weniger Bezug auf Eichendorffs Gedicht, sondern bezeichnet mottohaft diesen ersten musikalischen Abschnitt. Denn noch bevor sich die Musik textlich der zweiten Strophe zuwendet, beginnt ein mit „Mittag“ überschriebener Teil, der mit „quasi improvisando“ bezeichnet und klanglich durch den Wechsel der zweiten Flöte zur Bassflöte abgesetzt ist. Erst am Ende dieses „Mittag“-Abschnittes taucht erneut Eichendorffs Text in der Partitur auf und die Musik erinnert wieder stärker an den Anfang.
Bevor der „Abend“ beginnt, ist wiederum ein kurzer kontrapunktischer Abschnitt eingeschoben, diesmal ebenfalls mit Eichendorff-Text versehen, nämlich mit der vorletzten Zeile der ersten Strophe (die damit gedoppelt wird). Der „Abend“ ist als Rondino mit zwei Couplets gestaltet. Die Bassflöte wird mit der Altflöte vertauscht. Während das erste Couplet nur eine kurze, aus dem Refrain heraus entwickelte Episode ist, begegnet uns im zweiten Couplet erneut der Kontrapunkt, auch hier wieder mit Text unterlegt, diesmal mit der letzten Zeile der ersten Strophe. Die Rückkehr zum Refrain erinnert dann an die wie improvisiert klingende Musik des vorangegangenen „Mittag“.
Am Ende folgen dem Rondino drei Takte, die erneut auf den Schluss der Sonatine voraus weisen. Der anschließende letzte Teil „Nacht“ verstetigt dann den mehrfach vorauszitierten Kontrapunkt, und nimmt in großen Bögen den Text Eichendorffs wieder auf und führt ihn zu Ende. Der Kontrapunkt, der anfangs nur eine Zäsur markierte, trägt den Text also, musikalisch ans Ende.
Alle Tageszeiten sind im Ganzen im Morgen verhüllt; ihn durchzieht der Puls aller anderen Zeiten immer schon als Idee. Ausdruck dessen ist der sich durch das Stück ziehende Kontrapunkt, aus dem heraus sich am Ende die „Nacht“ entfaltet.
Der Spur dieses fernen Pulses, dem Hinhören auf den eigenen Herzschlag am Morgen, auf die vergangenen Nacht und die zukünftigen Zeiten lauschend, folgen auch die im Notentext zitierten Ausschnitte aus Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“. Das poetisch verdichtete Bild davon, die Zeit in sich hinein zu falten, und den Tag wie in einer kleinen Schachtel ablegen und aufbewahren zu können, ist die Grundidee dieser Komposition.
Volker Nickel: SONATINE
für zwei Flöten
ISMN 979-0-700344-32-0 / MVN 84 (Part)
24,- EUR
(München, 2017)


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